Die Filme der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Unterrichtskinematographie

 

Audrey Hostettler, Januar 2021
(übersetzt von Isabel Krek)

Dieser Text ist Teil des SNF-Forschungsprojekts «Réformes scolaires et usages du film dans les écoles en Suisse durant l’entre-deux-guerres».

Das Lichtspiel besitzt in seinen Sammlungen fast alle Filme, die in den 1930er und 1940er Jahren von der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Unterrichtskinematographie (SAFU), einer Genossenschaft Deutschschweizer Lehrer, produziert wurden.

Für Film- und Bildungshistoriker*innen sind diese Filme sehr wertvolle Zeitdokumente. In meiner Doktorarbeit über die Geschichte der Filmverwendungen an Schweizer Schulen sind sie essentiell, um meine Haupthypothese zu überprüfen. Es ist vor allem den Lehrern zu verdanken, dass sich der Film in den Schweizer Schulen nach und nach etabliert hat.

Die SAFU

1929 schlossen sich Lehrer aus Zürich und Basel zur SAFU zusammen, einer Genossenschaft zur Produktion und zum Verleih von Filmen für Schulen. Bereits Ende der 1910er Jahre fanden in der Schweiz Schulvorführungen statt, jedoch waren die Lehrer oft gezwungen, auf ausländische Filme oder «Kulturfilme», Dokumentarfilme für das breite Publikum, zurückzugreifen, die nicht an die Besonderheiten der Schweizer Schullehrpläne angepasst waren.

In einem Rhythmus von etwa zwei Filmen pro Jahr beginnen die SAFU-Lehrer  auf freiwilliger Basis die Filme zu produzieren, die sie für ihren Unterricht benötigen: zunächst einen Film über das Veredeln von Obstbäumen (Pfropfen), dann einen Animationsfilm über die Zellteilung; es folgen Filme über die Möwe, den Herzschlag, Schleusen, den Bau eines Tisches usw. (Die Lachmöwe, Herzschlag, Schleuse, Wie ein Tisch entsteht). Gleichzeitig richten sie ein Verleihsystem für Schulen ein, die über Projektoren verfügen.

Die SAFU arbeitet nach sehr strengen Prinzipien: Die Filme müssen kurz sein, um im Unterricht eingesetzt werden zu können, sie dürfen nur das zeigen, was andere didaktische Mittel nicht zeigen können (Bewegung), und sie müssen einen Bezug zu den Lehrplänen der Schulen haben.

Wie sah das Schulkino in den 1930er Jahren aus?

Sind die SAFU und ihre Filme repräsentativ für das Schulkino in der Schweiz? Vermutlich nicht. Es ist wahrscheinlicher, dass die Schulvorführungen im Allgemeinen denjenigen ähnelten, die im Film Für den guten Film (1961) gezeigt werden.

 

Dieser 1961 anlässlich des 40-jährigen Jubiläums einer anderen Produktions-/Verleihfirma, des Schweizer Schul- und Volkskinos in Bern (SSVK), entstandene Dokumentarfilm zeigt eine typische Vorführung aus den Anfangsjahren des Schulkinos.

In einem abgelegenen Dorf wird der Film Nanuk, der Eskimo (1922) von einem SSVK-Team in der eigens dafür mit einem tragbaren Projektor, einem «Kofferkino», ausgestatteten Kirche projiziert. Am Nachmittag findet eine Schulvorführung für alle Kinder des Dorfes statt, die vom Vorführer kommentiert wird. Am Abend sind die Erwachsenen zum gleichen Programm eingeladen.

Auf diese Weise brachte der SSVK das Kino aufs Land und verfügte über einen Katalog von mehreren hundert Dokumentarfilmen. In den 1920er Jahren war er das führende Unternehmen in der Schweiz für Schulvorführungen.

 

 

[Screenshots aus Für den guten Film: Die Leinwand wird in der Dorfkirche aufgebaut; die Kinder während der Vorführung.]

Die SAFU steht in starkem Kontrast zu dieser Herangehensweise. Tatsächlich ist die SAFU sogar geschaffen worden, um eine Alternative zu diesem Modell der SSVK zu bieten, das von einigen Lehrern als zu «kommerziell» angesehen wurde. Wenn dieselben Filme auch Erwachsenen gezeigt werden könnten, handle es nicht um «reine Schulfilme», um «Unterrichtsfilme», so ihre Ansicht. Die SAFU-Lehrer wollten Filme, die auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnitten waren, und hatten daher eine sehr klare Vorstellung von der Art der Filme, die sie benötigten (kurze Filme, die an den Lehrplan angepasst sind und bewegte Objekte zeigen). 

Auch wenn sie nicht für alle Schulfilmvorführungen repräsentativ sind, erlauben uns die SAFU-Filme, die Vorführungen im Unterricht zu rekonstruieren und die von vielen Deutschschweizer Lehrern vertretene Vision zu verstehen.

SAFU-Filme sichten

Wie so oft, wenn man die Stummfilmzeit erforscht, begegnet man den Filmen zuerst in Texten. Man liest und liest wieder und immer wieder Informationen über sie, man macht sich ein Bild von ihnen, oft lange bevor man die Filme selber in die Hände bekommt. Die erste Sichtung ist immer ein wahres Ereignis.

Im Fall der SAFU-Filme erinnere ich mich, dass ich vor allem zwei Dinge dachte. Erstens: Welch technische Qualität! Was für ein Bild! Wie gut diese Filme gemacht sind! Und zweitens (ich traue mich kaum, es zu sagen): Sie sind ein bisschen… langweilig.

Wenn man sich genauer über ihre Produktion informiert, kann man erkennen, warum diese Filme von so hoher Qualität waren. Für die Dreharbeiten arbeitete die SAFU mit dem Institut für Fotografie der ETH zusammen. Gemäss Set-Fotos, die die ETH aufbewahrt, hatte das Institut für Fotografie eine professionelle Ausrüstung, die sich ein einfacher Amateur damals nicht hätte leisten können. Die SAFU und das Institut für Fotografie wurden von der gleichen Person, Ernst Rüst, geleitet, und so war es für ihn ein Leichtes, die SAFU-Dreharbeiten mit der Ausrüstung der ETH durchzuführen.

 

[Einrichtungen für die Verfilmung von Schleuse am ETH-Institut für Fotografie. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Photographisches Institut der ETH Zürich / PI_31-H-0001 / CC BY-SA 4.0]

[Auf dem Set von Wie ein Tisch entsteht. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Photographisches Institut der ETH Zürich / PI_32-G-0158 / CC BY-SA 4.0]

Nach mehreren Visionierungen, wenn man die Überraschung über die technische Qualität der Filme einmal überwunden hat, muss man sich sagen, dass in ihnen eigentlich nicht viel passiert. Manche Filme sind wirklich minimalistisch; so besteht z. B. der ca. 2 Minuten dauernde Film Schleuse aus zwei statischen Kameraeinstellungen eines Modellschlosses. Der Animationsfilm Herzschlag ist ein Loop (damals als “Ringfilm“ bezeichnet), der zeigt, wie das menschliche Herz funktioniert.

 

 

[Screenshots aus Schleuse]

Andere Filme sind länger, wie Wasserfuhren im Wallis oder Die Lachmöwe, die zwischen 10 und 15 Minuten dauern. Der erste zeigt, wie das Wasser der Gletscher im Wallis kanalisiert wird, um es für die Landwirtschaft zu nutzen. Der zweite zeigt die Lebensabschnitte einer Möwe und verharrt unter anderem mehrere Minuten auf dem Schlüpfen der Eier. Selbst in diesen aufwändigeren Filmen wird die Zeit manchmal lang.

Natürlich muss man sich auch als Filmhistorikerin immer wieder neu mit dem ganz anderen Rhythmus der Filme von vor hundert Jahren vertraut machen. Aber ich habe schnell verstanden, dass diese «Langeweile» ein Zeichen für einen Mangel ist, dem man Rechnung tragen muss: Diese Filme setzen vor oder während des Films die Intervention eines Lehrers voraus. Es sind keine Filme, die gemacht wurden, um am Schneidetisch, ausserhalb ihres spezifischen Kontextes, geschaut zu werden. Sie sollten als Teil einer kompletten Schulstunde verstanden werden.

Das Puzzle wieder zusammensetzen

Nachdem ich die Filme gesichtet hatte, musste ich alle Puzzlestücke zusammensetzen, ihren Inhalt und alle schriftlichen Quellen zusammenfügen, die es mir erlaubten, eine typische Projektion zu rekonstruieren. Glücklicherweise sind einige Quellen erhalten geblieben: die pädagogischen Blätter, die mit dem verliehenen Film geliefert wurden und die das Lichtspiel systematisch aufbewahrt, Broschüren mit Standardlektionen («Lehrproben»), Artikel in der Fachpresse usw.

Aus diesen Quellen erfahren wir, dass der Film nur ein kleiner Teil des Unterrichts war. Für den Möwenfilm zum Beispiel hätten die Schüler zunächst eine Exkursion zum See gemacht, dann ihre Beobachtungen besprochen, Zeichnungen und Scherenschnitte angefertigt, etwas über die geografische Verbreitung von Möwen gelernt, eine Standbildprojektion angesehen und schliesslich den Film geschaut. Die Kinder waren somit zwangsläufig aufmerksamer als ich, da sie versuchten, ihre Beobachtungen zu bestätigen, ihr Wissen zu festigen, und auszumachen, worauf der Lehrer sie hinwies.

 

[«Als die Möwe mit ihrer Arbeit fertig war, duckte sie sich tief auf das Nest nieder und streckte den Hals ganz lang und in komischem Bogen in die Höhe. Mit dieser merkwürdigen Haltung lockte sie ein Weibchen her.» Schüleraufsatz, wiedergegeben von Hans Zollinger, «Aus der Praxis. Die Lachmöwe», Schweizerische Lehrerzeitung, 9. Mai 1931, S. 219. Screenshots aus Die Lachmöwe.]

Ein Beispiel: Ein Lehrer erklärt in einem Artikel, dass die Schüler in seinem Unterricht zunächst durch eine Lichtbildprojektion (Glasdias) zwei Möwen beobachteten, die sich gegenseitig den Hof machten. Im Film schien mir diese Szene auch nach mehreren Visionierungen unwichtig zu sein. In zwei Aufsätzen jedoch, die die Schüler nach dem Film geschrieben hatten, wird genauer darauf eingegangen. Ihre Erfahrung mit dem Film war aufgrund des Unterrichts, in den er sich einfügte, eine ganz andere als meine. Für die Schüler von 1930, die sich unter anderem darauf eingestellt hatten, den Balztanz zu untersuchen, war Die Lachmöwe wohl nicht langweilig.

Schulkino nach der SAFU

Durch diese historische Rekonstruktion können wir nachvollziehen, wie ein mit einem SAFU-Film gestalteter Schulunterricht ausgesehen haben könnte. Im Gegensatz zum SSVK mit seinen stundenfüllenden Dokumentarfilmvorführungen räumt die SAFU dem Film einen eher begrenzten Platz im Unterricht ein.

In der Tat ist für die SAFU die Verwendung von Film nur in «kleinen Dosen» gerechtfertigt. Keinesfalls darf der Film Vorrang vor dem Lehrer haben, der Herr über seinen Kurs bleiben muss. Ein Kurzfilm erlaubt ihm mehr Freiheit und Flexibilität in der Konzeption seiner Lektion. Der Film kann mehrmals projiziert werden, und es können Standbilder gezeigt werden; das macht es einfacher, sich an die Fähigkeiten und Interessen der Schüler anzupassen. Ausserdem ist es weniger wahrscheinlich, dass die Schüler passiv bleiben oder sogar von dem Film «hypnotisiert» werden (was damals eine weit verbreitete Angst war), wenn er nur ein paar Minuten dauert.

Diese Eigenschaften machen das «SAFU-Modell» zu einem Modell im Einklang mit den pädagogischen Theorien der Zeit, die einen «massgeschneiderten», an die Schüler angepassten Unterricht wünschten, der sie in eine aktive Haltung versetzen und damit nachhaltiges Lernen garantieren sollte.

Die Rekonstruktion eines Unterrichts, wie er damals stattgefunden hat, ist komplex, da die Quellen dazu meistens spärlich sind. Die SAFU-Filme stellen daher für eine derartige Forschung ein wesentliches Puzzlestück dar. Sie dienen der Rekonstruktion der Art und Weise, wie das Kino in den Schweizer Schulen eingesetzt wurde: Schon ihr Inhalt selber setzte bestimmte Praktiken voraus und erforderte eine spezifische pädagogische Betreuung. Ausgehend von den Filmen selbst lässt sich also ableiten, was um 1930 das Lehren und Lernen mit den Mitteln des Kinos tatsächlich bedeutete. Die Produktionen der SAFU-Lehrer sind daher sehr wertvolle Quellen für ein besseres Verständnis eines lange vernachlässigten Teils der Geschichte des Schweizer Kinos, aber auch der Geschichte der Schule.

 

 

 

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