Adrian Gerber

Charlie Chaplin, der Krieg und das Schweizer Schul- und Volkskino

Eine Recherche zu Produktion, Verleih und Aufführung in der Frühzeit des Kinos

An einem schon vormittags angenehm warmen Frühlingstag im Jahr 2011 sass ich an einem Steenbeck-Schneidtisch im Berner Lichtspiel, das damals noch in der alten Schokoladen-Fabrik am Güterbahnhof untergebracht war. Eben erst hatte ich mein Forschungsprojekt zum Kino in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs gestartet und mich eher aus Neugier als aus einem zwingenden Grund dazu entschieden, eine 16mm-Kopie von Charlie Chaplins Kriegskomödie Shoulder Arms von 1918 aus dem umfangreichen Filmarchiv des Lichtspiels zu sichten. Es sollte an diesem Tag fast 30°C heiss werden, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass mich diese aussergewöhnliche Schmalfilmkopie, die einst dem Schweizer Schul- und Volkskino (SSVK) gehört hatte, in ihren Bann ziehen und in Recherchen verwickeln würde, die sich über zehn Jahre erstrecken sollten.[1]

In Shoulder Arms ist Charlie ein tollpatschiger amerikanischer Rekrut in Ausbildung. Er findet sich aber schon bald als einfacher Soldat mitten im schlammigen Grabenkampf an der Westfront des Ersten Weltkriegs wieder. Auf einer Mission hinter den feindlichen Linien lernt er eine hübsche Französin (Edna Purviance) kennen, die später in deutsche Gefangenschaft gerät. Mit Unverfrorenheit und schlauen Tricks befreit er sie aus den Fängen eines lüsternen deutschen Offiziers mit groteskem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart; dabei gelingt es ihm sogar, den deutschen Monarchen höchstpersönlich gefangen zu nehmen. In der vorletzten Sequenz nimmt Charlot dem Kaiser einen Orden von der Brust und versetzt ihm einen Fusstritt in den Hintern – dann erwacht der Rekrut aus seinem tollkühnen Traum.

Böse Deutsche

Die rund 40-minütige Slapstickkomödie lässt sich einer Gruppe von aufsehenerregenden Filmen zuordnen, die in der zweiten Kriegshälfte und in der unmittelbaren Nachkriegszeit in den USA, in Grossbritannien und weiteren alliierten Staaten entstanden und schon bald unter dem Sammelbegriff ‹Hate-the-Hun films› oder ‹Hunnenfilme› firmierten. Diese ansonsten eher nicht-komödiantischen Streifen waren Bestandteil des auf deutscher Seite abschätzig ‹Gräuelpropaganda› genannten medienübergreifenden Diskurses über erfundene und tatsächliche deutsche Kriegsverbrechen im Weltkrieg. Die Kriegsdramen erzählten mit einem bisher unbekannten Mass an (oft sexualisierten) Gewaltdarstellungen und mit einer deutschfeindlichen Tendenz in extremis gemeinhin in melodramatischem Ton vom aufopferungs- und leidvollen Schicksal anständiger Bürger (und vor allem Bürgerinnen) in den Fängen deutscher Spione und Militärs. Die Hunnenfilme zeichnen einfache deutsche Soldaten als grobschlächtige und böse Rohlinge, die saufend, schändend und mordend durch die Lande ziehen und die Zivilbevölkerung terrorisieren. Ihre vorgesetzten Offiziere, Ausgeburten des preussischen Militarismus, sind oft etwas steif und feingliedriger als das militärische Fussvolk gezeichnet; sie geben sich zwar kultiviert, sind in Wahrheit aber noch verdorbener.[2]

Obschon als Witzfiguren dargestellt, entsprechen die deutschen Charaktere und viele Handlungselemente in Shoulder Arms genau diesem antideutschen Strickmuster. Auch wenn Chaplin im Jahr 1918 in die offizielle amerikanische Kriegsanleihen-Propaganda involviert war, handelte es sich bei Shoulder Arms (wie bei anderen Hunnenfilmen) indes nicht um eine eigentliche Propagandaproduktion. In allererster Linie war der Streifen ein kommerzielles Unterhaltungsprodukt des Privatunternehmens Charles Chaplin Productions. Der Film orientierte sich am vermuteten Zeitgeist, nahm politische Stimmungen, vermeintlich populäre Themen und Meinungen auf, um an der Kinokasse zu reüssieren.[3]

Diplomatie und Zensur

Nachdem Shoulder Arms im Oktober 1918 in den USA sehr erfolgreich angelaufen war, lassen sich in der Schweiz ab Sommer 1919 bis in die erste Hälfte der 1930er-Jahre unzählige Aufführungen des Films zur Hauptsache unter den lokalen Verwertungstiteln Charlot soldat oder Charlot als Soldat nachweisen. Der Film mit dem schon damals weltweit bekannten und geliebten Komiker übertraf allem Anschein nach auch in der Schweiz die kommerziellen Erwartungen bei weitem.

Auf eine Vorführung von Shoulder Arms im Zürcher Kino Palace Ende April 1922 wurde auch die Deutsche Gesandtschaft in Bern aufmerksam. An eine gängige Praxis der Kriegszeit anknüpfend,[4] beanstandete die Gesandtschaft den Film mit einer diplomatischen Beschwerde bei den eidgenössischen Behörden. Der Streifen verletze das Gefühl jedes Deutschen, mache das deutsche Heer und seine Führer lächerlich und lasse sie grausam erscheinen. Weil die Filmzensur in der Schweiz im Wesentlichen kantonal geregelt war,[5] wandte sich das Justiz- und Polizeidepartement mit dem Gesuch, die Aufführung des Films zu verhindern bzw. die für Deutschland beleidigenden Stellen zu beseitigen, umgehend an die Polizeidirektionen der Kantone, wie Basler Zensurakten belegen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt scheinen in mehreren Kantonen, neben Zürich sicher auch in Basel-Stadt, gekürzte Versionen von Shoulder Arms aufgeführt worden zu sein; im Kanton Bern war der Film sogar ganz verboten worden.

Die diplomatischen Vertretungen Deutschlands blieben indes wachsam: Als der «Hetzfilm» in den USA, in Dänemark und Bulgarien wieder auftauchte, forderte das Auswärtige Amt in einem weltweiten Rundschreiben alle deutschen Vertretungen auf, gegen die Produktion, wo auch immer sie in Erscheinung trete, geeignete Schritte zu unternehmen. So gelangte die deutsche Diplomatie im Januar 1928, nach dem offiziellen Schweizer Re-Release des Films durch die Schweizer Verleihfirma Etna-Film Co. A.-G., erneut an die Eidgenossenschaft, was zu einem Verbot von Shoulder Arms in den Kantonen Basel-Stadt und Genf führte. Das Genfer Justizdepartement liess sich jedoch schon ein paar Monate später durch ein Gesuch eines lokalen Verleihers erweichen und den in Zürich zensorisch bereits begutachteten Film wieder zu – mit weiteren Kürzungen. Wahrscheinlich bereuten die Genfer diesen Schritt sogleich, denn am 18. Juni organisierte eine Gruppe deutscher Studenten im Genfer Kino Alhambra während der Aufführung von Shoulder Arms einen Radau, um weitere Vorstellungen zu verhindern. Ein im Saal anwesender Konsulatsmitarbeiter erstattete Bericht. Das entsprechende Schreiben ist zusammen mit umfangreichen weiteren Akten rund um Aufführungen, diplomatische Beschwerden und Zensurmassnahmen gegen Shoulder Arms im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin erhalten geblieben.

Charlie Chaplins Shoulder Arms (1918) thematisiert in komödiantischer Überzeichnung auch die schrecklichen Bedingungen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs.

 

Diese Akten zeigen auch, dass der Etna-Verleih und der Anwalt des Berner Kinos Alhambra ab Sommer 1928 mit grossem Aufwand um eine kantonale Freigabe des in Bern seit längerem verbotenen Films kämpften. Hierzu dürfte Chaplins Streifen durch den Verleih weiter gekürzt und nicht nur der kantonalen Lichtspielkontrolle, sondern gleichzeitig auch der Deutschen Gesandtschaft vorgeführt worden sein, um sicherzustellen, dass nun wirklich «alle Stellen, an denen man sich vernünftigerweise stossen könnte», entfernt wurden. Unterwürfig wurde auch in Aussicht gestellt, an der gemeinsamen Testaufführung zur «Entgegennahme von irgendwelchen zweckdienlichen Wünschen», also zu weiteren Schnitten, bereit zu sein. Hauptsache war wohl, dass mit Chaplins Publikumserfolg auch in Bern endlich Kasse gemacht werden konnte – in welcher verstümmelten Form auch immer. Als Shoulder Arms im Kanton Bern Anfang November 1928 schliesslich zugelassen wurde, revanchierte sich das Alhambra allerdings mit einem reisserischen Inserat in Grossformat, das auf den «zähen Kampf» um den «hier jahrelang verbotenen Film» hinwies, was wiederum natürlich die Gesandtschaft erzürnte.

Nach dem Tohuwabohu von 1928 wurde es still um Shoulder Arms. Für knappe 3 Jahre. Dann, im August 1931, tauchte abermals eine Version des Films, unter dem Titel Charlot soldat / Im Osten was Neues, in Genf und Basel auf, angeblich mit Musikvertonung neu editiert und ebenfalls gekürzt. Die Genfer scheinen den Kinobetreiber gewährt haben zu lassen. Auch die Basler Behörden erlaubten nach Rücksprache in Bern und zusätzlichen Schnitten die Aufführung ab Oktober.

 

Rekonstruktion von Aufführfassungen

Nun wäre es natürlich interessant in Erfahrung zu bringen, welche konkreten Einstellungen und Szenen des Films seinerzeit als problematisch erachtet und gekürzt wurden. Damit liesse sich unter anderem die faszinierende Frage klären, welchen ‹Film› die damaligen Kinogänger eigentlich sahen, wenn sie eine Eintrittskarte für Chaplins Meisterwerk Shoulder Arms erstanden. Weil die Überlieferungssituation für Zensurakten im Allgemeinen eine ausserordentlich schlechte ist und insbesondere keine detaillierten Schnittprotokolle erhalten geblieben sind,[6] hat sich eine annähernde Rekonstruktion historischer Aufführungsfassungen auf vereinzelt und verstreut vorliegende Informationsbruchstücke zu stützen.

Die genauste inhaltliche Beschreibung einer in der Schweiz tatsächlich gezeigten Version von Shoulder Arms liegt uns in Form zweier deutscher Berichte über jene Genfer Aufführung im Juni 1928 vor, die durch eine studentische Protestaktion im Kinosaal gestört wurde. Aufgezählt werden die aus deutscher Sicht zu beanstandenden Szenen:

  • Ein deutscher Offizier misshandelt seine Soldaten im Schützengraben vor dem Feind [Ohrfeigen, Tritte beim Exerzieren].
  • Die Deutschen werden in einer Schützengrabenszene als besonders feige dargestellt.
  • Der deutsche Offizier betrinkt sich im Schützengraben in Gegenwart seiner Mannschaft, die ihrerseits nichts erhält.
  • Misshandlung und Versuch der willkürlichen Erschiessung eines Kriegsgefangenen.
  • Eine Abteilung deutscher Soldaten versucht durch Bedrohung mit einem Maschinengewehr einen einzelnen Amerikaner festzunehmen.
  • Andeutung einer Vergewaltigung (die Szene selbst ist jetzt in der Tat gestrichen, doch ist der Zusammenhang aus den stehengebliebenen Anfangsbildern zu erraten).
  • Charlot ohrfeigt und tritt einen gefangenen Amerikaner und herrscht die deutsche Mannschaft an, um sich gegenüber den Deutschen als Deutscher zu legitimieren.
  • Eine zweite Darstellung eines unsittlichen Angriffs auf die Französin durch einen der beiden Chauffeure des kaiserlichen Autos.[7]

Insgesamt sei der Film «[t]rotz aller Kürzungen und Streichungen […] auch in seiner heutigen Vorführungsform noch geeignet, das deutsche Ansehen im Auslande zu schädigen», so die Berichte weiter. Die «Gesamttendenz und Einzelszenen» seien für Deutschland beleidigend. Die «deutschen Soldatentypen» seien zudem «nicht etwa komisch, sondern ausnahmslos in ihrer Maske unsagbar gemein wiedergegeben».

Bei der Genfer Fassung von 1928 handelte es sich um eine aus heutiger Perspektive vollkommen harmlose Version von Shoulder Arms, die durch mehrere zensorische Eingriffe radikal zusammengestrichen worden war. Aufgrund der zitierten deutschen Berichte lässt sich im Vergleich zur ursprünglichen Fassung herleiten (eine Näherung daran ist auf DVD greifbar, dazu gleich mehr), dass in Genf die folgenden, politisch und komödiantisch expliziteren Elemente des Originalfilms bereits gefehlt haben müssen:

  • Ein stinkender Limburger-Käse (in europäischen Fassungen: Camembert), den Charlot aus dem Schützengraben wirft, trifft den kleinwüchsigen deutschen Offizier mitten im Gesicht.
  • Nach Gefangennahme deutscher Soldaten spielen Charlot und ein anderer amerikanischer Soldat mit den erbeuteten Pickelhauben.
  • Charlot versohlt dem gefangenen deutschen Offizier den Hintern, worauf die deutschen Soldaten Charlie freudig gratulieren und einer den Offizier würgt.
  • Nachdem ein deutscher Soldat fies lachend den Kommandoposten verlassen hat, versucht ein (anderer) deutscher Offizier die gefangen genommene Französin zu vergewaltigen (was Charlot gewaltsam verhindert).
  • Nach der Ankunft des deutschen Kaisers, von Kronprinz Wilhelm und Feldmarschall Hindenburg im Kommandoposten und während Charlot die zur Tarnung angezogene deutsche Offiziersuniform fertig zuknöpft, taxiert der Kronprinz die Französin und deutet grinsend einen sexuellen Vorfall an.
  • Der Kaiser bemerkt leere Champagnerflaschen auf dem Schreibtisch des Offiziers.
  • Der Kronprinz setzt sich auf einen glühenden Schürhaken.
  • Als er sich ein Glas Champagner einschenkt, wird der Kronprinz vom Kaiser ermahnt, sich auf den Krieg zu konzentrieren.
  • Der unwissende Kaiser und sein Gefolge werden im eigenen Automobil entführt.
  • Kaiser, Kronprinz und Hindenburg treffen teils mit erhobenen Händen im amerikanischen Militärlager ein, umringt von jubelnden Soldaten.
  • Charlot nimmt dem Kaiser einen Orden von der Brust und versetzt ihm einen Tritt in den Hintern.

Im Jahr 1931, als der Film unter anderem in Basel wieder in längerer Version auftauchte, störte sich die Basler Zensur offenbar an den genau gleichen Szenen. Folglich wurden «sämtliche Stellen, in denen der deutsche Offizier als brutaler[,] lächerlicher oder dreister Mensch vorkommt», gekürzt sowie – über die Genfer Streichungen noch hinausgehend – die «Szenen mit dem Trio ‹Kaiser, Kronprinz, Feldmarschall› gänzlich ausgeschnitten».

Die verschiedentlichen Behauptungen der Schweizer Verleihfirmen gegenüber Zensurbehörden und deutschen Vertretungen in der Schweiz, wonach Shoulder Arms um bis zur Hälfte auf eine Länge von rund 500 Metern gekürzt worden sei, sind aus naheliegenden Gründen überzogen. In Wirklichkeit dürfte Shoulder Arms in der Schweiz in Versionen in Umlauf gewesen sein, die von ursprünglich rund 900 Metern um bis zu ca. 20% gekürzt waren. Auch wenn Shoulder Arms in den 1920er-Jahren und frühen 1930er-Jahren insgesamt in unterschiedlich stark beschnittenen Versionen in Umlauf war, ist davon auszugehen, dass es in den verschiedenen Aufführkontexten weitgehend immer wieder die gleichen Szenen und Einstellungen waren, die aus dem Film entfernt werden mussten.

Schweizer Unbehagen

Das historische Schweizer Kinopublikum bekam in den 1920er- und 1930er-Jahren einen Film zu sehen, der die originale Qualität von Chaplins Bravourstück – dessen Charme und Witz noch heutige Zuschauer über hundert Jahre nach der Erstaufführung zu begeistern vermögen – in mehrfacher Hinsicht konterkarierte: Auf der Ebene des Filmplots liessen die Genfer und Basler

Aufführfassungen von 1928 und 1931 mit den Schnitten in Bezug auf Kaiser, Kronprinz und Hindenburg ein wesentliches Handlungselement der Filmklimax teilweise (Entführung) oder ganz vermissen (alle Szenen mit Trio). Die partielle oder komplette Weglassung der wiederholten Szenen der Deutschen in ihrem Schützengraben, in deren letzter der deutsche Offizier von Chaplins Wurfgeschoss aus Stinkkäse im Gesicht getroffen wird, zerstörte auf der Ebene der Montage die filmkünstlerisch elegante Parallelführung von Ereignissen im amerikanischen und im deutschen Graben sowie deren kulminierende Auflösung. Denn erst der Wurf des Käses (der nicht weggeschnitten wurde) und der anschliessende Einschlag enthüllen die räumliche Beziehung der zuvor separat gezeigten Handlungsorte, also die verblüffende Nähe der beiden feindlichen Gräben. Weiter reduzierten mehrere Schnitte humoristische Einfälle im Bereich des Slapsticks (Tritte, Schläge und dergleichen). Schliesslich fehlte den historischen Versionen zuweilen auch der für Chaplin so typische moralische Tiefgang, der vielleicht am besten als ‹menschliche Dimension› seiner Filme benannt werden könnte: Wenn Charlot den von ihm gefangenen deutschen Soldaten Zigaretten anbietet und dem fiesen deutschen Offizier zur unverhohlenen Freude von dessen Untergebenen den Hintern versohlt, geht eine solche Szene natürlich über nationalistische Deutschenschelte hinaus und verweist stattdessen auf soziale Bruchlinien und Versöhnungspotenzial im schrecklichen Weltkrieg.

Aus schweizerischer Perspektive entsprachen die bis in die frühen 1930er-Jahre unternommenen behördlichen Bemühungen zur Unterdrückung von Shoulder Arms in erster Linie den selbst auferlegten neutralitätspolitischen Verpflichtungen gegenüber dem Ausland – und dienten damit gleichzeitig der innenpolitischen Stabilisierung der sprachregional gespaltenen Schweiz. Es ist indes zu vermuten, dass der Streifen nicht nur in deutschen Amtsstuben auf wenig Gegenliebe stiess, sondern dass es darüber hinaus genuin schweizerische Gründe gab, den Film in seiner ursprünglichen Fassung von der Leinwand zu verbannen. Die anarchischen Chaplin-Burlesken, von denen sich manche über staatliche Autoritäten lustig machten, hatten bei Schweizer Zensoren bereits in den 1910er-Jahren einen schweren Stand.[8] Auch in Shoulder Arms konnten manche Gags als Ausdruck einer allgemeinen Skepsis gegenüber militärischen Instanzen und Praktiken gelesen werden. So richtet Chaplins Soldat auch in den eigenen Reihen, beispielsweise beim Exerzieren, ein heilloses Durcheinander an. Die allgemein autoritäts- und militarismusfeindliche Dimension des Films musste Obrigkeit und Establishment in der Schweiz provoziert haben: Deutschland genoss in der Deutschschweiz, insbesondere in der gesellschaftlichen Elite und damit auch in der Führungsschicht der schweizerischen Milizarmee, grosse Sympathien. Gerade ihr Oberbefehlshaber der Kriegszeit, General Ulrich Wille, sympathisierte bekanntlich offen mit Deutschland. Bereits vor dem Krieg führte er autoritäre preussisch-deutsche Disziplinierungs- und Führungsformen ein und vertrat das entsprechende autoritäre Staats- und Gesellschaftsideal. In diesem Rezeptionskontext ist es gut möglich, dass ein einfacher Schweizer Kinobesucher im gemeinen deutschen Offizier, dem Chaplin schliesslich den Hintern verhaut, seinen eigenen militärischen Vorgesetzten erblickte. Vielleicht wollten Schweizer Entscheidungsträger mit ihren Schnittauflagen und Verboten auch solche alternativen Bedeutungszuschreibungen unterbinden.

Rettung im Lichtspiel

Interessant und berührend ist, dass sich zensorische Eingriffe in Filmkopien physisch einschreiben und damit gewissermassen konserviert werden. Dementsprechend weist auch die im Berner Lichtspiel erhaltene historische Fassung von Shoulder Arms genau an den in den Schriftquellen der 1920er- und 1930er-Jahren beanstandeten Filmstellen oft gewisse Weglassungen auf.

Das Lichtspiel ist eine auch von Freiwilligenarbeit mitgetragene, historische Apparate- und Filmsammlung mit regelmässigem Kinobetrieb in der Stadt Bern. Diese einzigartige Gedächtnisinstitution wurde im Jahr 2000 gegründet und verwahrt heute mehrere 16mm-Kopien von Shoulder Arms (auf Safety-Film), die alle auf die gleiche – mutmasslich nicht mehr vorhandene – historische Schweizer Vorführkopie im 35mm-Format mit französisch- und deutschsprachen Zwischentiteln und mit einer Länge von rund 800 Metern zurückgehen. Die 16mm-Kopien stammen ursprünglich aus den Beständen der Schmalfilmzentrale des Schweizer Schul- und Volkskinos (SSVK).

Dass die Chaplin-Filme sowie Hunderte weitere Streifen aus dem Archiv des SSVK das Jahr 1998 überlebten, als das SSVK seine Filmverleihtätigkeit einstellen musste,[9] ist dem ehemaligen Lehrer und Filmliebhaber Peter Fasnacht zu verdanken. Wenige Tage vor der geplanten Vernichtung der Filme in einer Berner Kehrichtverbrennungsanlage erfuhr er vom SSVK-Bestand, überzeugte in hektischen Verhandlungen die zunächst ablehnende Cinémathèque suisse einen Teil davon zu übernehmen, kaufte den Rest mit eigenem Geld und brachte diese Filme – darunter auch die Kopien von Shoulder Arms – in die Sammlung des in Gründung befindlichen Lichtspiels ein.

Doch wann und unter welchen Umständen gelangte das SSVK in den Besitz von Shoulder Arms? Und wie erwarb der Schmalfilmverleih eigentlich die für seine Geschäfte notwendigen Nutzungsrechte an diesem bedeutenden Filmklassiker von Charlie Chaplin – wo dessen Firmen doch bekannt dafür waren (und sind), ihre Rechte äusserst restriktiv zu handhaben? Die kurze Antwort auf die rechtliche Frage lautet: Gar nicht. Der grösste nicht-kommerzielle Filmverleih der Schweiz verbreitete Shoulder Arms auf illegale Weise. Dies ganz bewusst.

Machenschaften des SSVK

Als einer der ersten richtig grossen Filmstars, als Produzent seiner eigenen Filme und gewiefter Geschäftsmann kontrollierte Chaplin die Auswertung seiner Unterhaltungsprodukte sehr genau. Das belegen Tausende von Archivdokumenten seiner Unternehmen, die ein halbes Jahrhundert im feuchten Keller des Familienanwesens bei Vevey lagerten und erst seit kurzem online verfügbar sind. Shoulder Arms sollte nach dem ursprünglichen Release sowie dem internationalen Re-Release durch Pathé Exchange von 1925 bis 1930 vorerst nicht mehr zur Aufführung gelangen. Zum Schutz der Urheberrechte – und zum grossen Bedauern heutiger Filmhistoriker und Filmarchivare – sahen die Vertriebsverträge jener Jahre vor, dass Vorführkopien nach Vertragsablauf eingezogen und vernichtet werden sollten. Auch lehnte Chaplin, der die Figur des liebenswürdigen Tramps erschuf, spätere Anfragen für Verleih- und Aufführrechte an seinem Film aus geschäftlichen Erwägungen grundsätzlich ab, selbst bei nicht-kommerziellen Antragstellern. Auch die Schweizerische Arbeiterbildungszentrale blitzte mit ihrem Ansinnen ab, einige von Chaplins Werken für die soziale Bildungsarbeit nutzen zu dürfen. Alle Appelle an Chaplins angebliche Sympathie für die Arbeiterklasse nützten nichts. Nur ein einziges Mal liess sich der Studioboss erweichen und erlaubte der US Army mitten im Zweiten Weltkrieg Shoulder Arms für die Truppenunterhaltung zu nutzen.

Chaplins Firmen wurden im März 1935 auf die Geschäftspraktiken des SSVK aufmerksam.

Trotz aller Vorsichtsmassnahmen zirkulierten Shoulder Arms und andere Chaplin-Filme sicher seit den frühen 1930er-Jahren in verschiedenen Ländern als illegale Kopien, die in den Jahren zuvor der Vernichtung entgangen und/oder vervielfältigt worden waren. Wo auch immer Raubkopien auftauchten, wurden sofort Chaplins Anwälte aktiv. Unter Androhung und Anwendung rechtlicher Schritte zwang man die Übeltäter jeweils, die Kopien auszuhändigen, deren Herkunft preiszugeben und manchmal eine Entschädigung zu leisten. Im März 1935 gingen bei der Charles Chaplin Film Corporation in Hollywood erste Nachrichten ein, dass ein «Swiss School and Popular Kino» Werke Chaplins gesetzwidrig verleihe. Die lokalen Rechtsvertreter der United Artists Corporation konnten in den folgenden Monaten mehrere Aufführkopien und Dupe-Negative von Shoulder Arms und zwei anderen Chaplin-Filmen in Bern sicherstellen. Sie erfuhren zudem, dass die Streifen ursprünglich von Uty-Film S. A. in Genf stammten, durch das SSVK verliehen worden waren und dass das SSVK die Verleihrechte möglicherweise gar an das Filmlabor und Verleihunternehmen Peka-Film veräussert hatte.

Bei Uty-Film handelte es sich um eine dubiose, zunächst ausserhalb des Branchenverbandes operierende Verleihfirma, die Shoulder Arms ab 1931 vertrieb, als in der Schweiz für den Film eigentlich keine Verleih-Konzession mehr bestand, wie die Basler Zensurakten zeigen. Uty-Film scheint Mitte der 1930er tatsächlich eine alte Kopie von Shoulder Arms an das SSVK verscherbelt zu haben. Das Interesse der kommerziellen Kinos am Film hatte bis zu diesem Zeitpunkt womöglich bereits nachgelassen. Unterstützt wird die Annahme, wonach Uty-Film für die Weitergabe von Shoulder Arms verantwortlich war, auch durch die Zwischentitel der Lichtspiel-Fassung, die auf die 1931 von Uty-Film hergestellten Titel zurückgehen dürften.[10] Ein Zwischentitel nennt den Wortlaut des Funkspruchs, der im Film die Gefangennahme des Kaisers verkündet: «IM OSTEN! WAS NEUES!». Diese Textstelle verweist natürlich auf den 1929 erschienenen Bestseller von Erich Maria Remarque. Und sie stimmt mit dem in den Zensurakten genannten Verwertungstitel von Uty-Film in Genf und Basel von 1931 überein!

Offenbar hinterliessen Chaplins Anwälte bei den Bernern keinen nachhaltigen Eindruck und entdeckten wahrscheinlich auch nicht alle vorhandenen Kopien von Shoulder Arms. Denn ab 1940 bewarb das SSVK im Verleihkatalog der Schmalfilmzentrale den Film erneut.[11] Möglicherweise sahen die Verantwortlichen des SSVK im Zweiten Weltkrieg eine gute Gelegenheit, ihre windigen Geschäfte fortzuführen; die USA und Chaplins Firmen waren damals weit weg. Die mutmassliche Hoffnung, bei der gegebenen Weltlage würde sich schon niemand für die Machenschaften eines Schweizer Schmalfilmverleihs interessieren, sollten sich erfüllen. Nach dem Krieg ging dann wohl in Vergessenheit, dass mit Shoulder Arms rechtlich etwas nicht stimmte; auch auf dem Radar von Chaplins Anwälten tauchte das SSVK glücklicherweise nicht mehr auf. Zudem ist bemerkenswert, dass die offiziöse Schweizer Verleihstelle für Schulen, Vereine, Organisationen und dergleichen gerade eine durch die Zensur der 1920er- und 1930er-Jahre arg verstümmelte Fassung von Shoulder Arms verbreitete und für mutmasslich Hunderte nicht-kommerzieller Aufführungen in der Schweiz zur Verfügung stellte – und zwar während Jahrzehnten bis in die späten 1990er-Jahre! Ob hier anfänglich eine politische Absicht, Nachlässigkeit oder Unwissen waltete, bleibt indes unklar.

Rätselhafte Einzigartigkeit?

Als offizielle Fassung von Shoulder Arms gilt heute die von Chaplin initiierte Wiederaufführung von Shoulder Arms zusammen mit A Dog’s Life und The Pilgrim im Rahmen von The Chaplin Revue von 1959. Hierbei wurde Shoulder Arms eine Einleitung und Musikbegleitung hinzugefügt, und der Streifen wurde einem Stretch Printing unterzogen. Alle heute kommerziell greifbaren Formen des Films basieren auf dieser Fassung.[12]

Es ist nicht unüblich, dass die filmhistorische Forschung mit modernen Kauf-DVDs und gestreamten Inhalten arbeitet, oft ohne sich möglicher Besonderheiten der aktuell vorliegenden Filmfassungen bewusst zu sein. Dass dies im Fall von Shoulder Arms besonders problematisch sein kann, verdeutlicht nicht zuletzt die im Lichtspiel überlieferte Kopie des Films. Denn sie weist mit den in sie eingeschriebenen und in ihr physisch verewigten Zensurmassnahmen nicht nur einen Mangel auf. Sie verfügt in gewisser Hinsicht auch über ein rätselhaftes ‹Mehr›.

Ein Steenbeck-Schneidtisch im Berner Lichtspiel.

Am besagten Frühlingstag im Jahr 2011 sprang mir bei der Sichtung der 16mm-Kopie im Lichtspiel bald eine Bildeinstellung ins Auge, die sich von der offiziellen Version unterschied. Ich schaltete sofort auf Einzelbildlauf und verglich das Bild auf dem Schirm des Schneidtisches mit der Revue-Fassung auf meinem Laptop. Bald kamen weitere Abweichungen ans Licht, die nichts mit den früheren zensorischen Eingriffen zu tun hatten. Da gibt es Einstellungen, die eine geringfügig andere Perspektive aufweisen, als wäre die Kamera um knapp einen Meter verschoben worden. Es existieren Nahaufnahmen von Chaplin, die in der Version des Lichtspiels enger kadriert sind, dem kleinen Soldaten somit auch emotional näher kommen. Und dann sind da einzelne Einstellungen, in denen die Schauspieler und die Schauspielerin ihre Darbietung auf geringfügig unterschiedliche Art und Weise ausführen: abweichende Gesichtsausdrücke, Handbewegungen, Körperhaltungen und Bewegungsabläufe. Wenn zum Beispiel Charlot mit den gefangenen Deutschen in den Schützengraben hinuntersteigt, ist das Timing seiner Schritte und der Rauchbewegungen verschieden. Die vor ihrem zerstörten Haus sitzende Französin ist genau in die entgegengesetzte Richtung gewandt.

Die Erkenntnis, im Grunde zwei unterschiedliche Filme vor mir zu haben, war eine verwirrende Erfahrung. Sie gewann noch an Nachhaltigkeit, als ich an diesem zunehmend heisser werdenden Nachmittag langsam realisierte, dass sich praktisch jede einzelne Einstellung der Lichtspielkopie von der entsprechenden Einstellung der offiziellen Revue-Fassung unterscheidet! Perfekt war die Verblüffung, als sich später herausstellte, dass die einzige andere mir damals bekannte historische Kopie von Shoulder Arms, diejenige der Cinémathèque suisse, wiederum anders ist, also auf gleiche Weise sowohl von der Revue-Fassung als auch von der Version im Lichtspiel abweicht. So etwas wie ein Original des Meisterwerks von Chaplin gibt es also gar nicht. Vielmehr existieren mehrere Werke, die zwar (abgesehen von den zensorischen Eingriffen) weitgehend übereinstimmende Schnittfolgen aufweisen, aber mit feinen visuellen Varianten aufwarten.

Charlie Chaplin trägt in einer Drehpause am Set von Shoulder Arms das berühmte Baum-Kostüm; im Hintergrund stehen zwei Filmkameras für die Aufnahme bereit.

Doch wie lassen sich die verschiedenen Varianten ein und desselben Films erklären? Aus der spezialisierten Fachliteratur geht hervor, dass es in der Stummfilmzeit bei bedeutenden Produktionen nicht unüblich war, mehrere Kameranegative herzustellen. Dies ermöglichte es, für die internationale Auswertung eines Films innerhalb kurzer Zeit viele Vorführpositive herzustellen, ohne Qualitätsverlust durch Zwischennegative. Gleichermassen war man bei Verlust eines Negativs gewappnet. Auch für Chaplins Stummfilm-Produktionen wurden mehrere Originalnegative kreiert, indem man mit zwei Kameras drehte und zusätzlich mehrere Takes einer Einstellung aufnahm. Die alternativen Takes unterscheiden sich wahrnehmbar, denn Chaplin improvisierte beim Dreh seiner Stummfilme stark und näherte sich einer Szene in mehreren Durchgängen an, bei denen die Kamera lief.[13] Fotos von den Dreharbeiten zu Shoulder Arms bezeugen die Anwesenheit zweier Kameras, die unmittelbar nebeneinander positioniert waren.

Chaplins Geschäftsunterlagen belegen ferner, dass man im Fall von Shoulder Arms sogar vier verschiedene Negative (!) in einigermassen identischer Schnittfolge herstellte. Die Negative wurden zu verschiedenen Zeitpunkten für die Herstellung von Vorführkopien für bestimmte Verbreitungsgebiete genutzt. Hinzu kommt, dass Chaplins Kameramann Rollie Totheroh Mitte der 1940er-Jahre das A-Negativ wegen seiner fortgeschrittenen Abnutzung und chemischen Degeneration überarbeitete, indem er angeblich die defekten Stellen durch Teile des C- und D-Negativs ersetzte, wahrscheinlicher noch, indem er das D-Negativ mit einigen Schnipseln des C-Negativs schlicht zur neuen A-Fassung erklärte. Diese neue Fassung – die folglich Einstellungen enthielt, die nicht der ‹ersten Wahl› entsprachen und es 1918 ‹nur› in das D-Negativ schafften – wurde schliesslich für die offizielle, von Chaplin initiierte Wiederaufführung von 1959 verwendet. In Shoulder Arms gibt es beispielsweise eine Szene im Schützengraben, in der Granatexplosionen den Helm auf Charlies Kopf hüpfen lassen. Die an sich eigentlich frontal und zentralperspektivisch angelegte Szene ist in The Chaplin Revue seitlich verschoben aufgenommen. Eine andere Aufnahme der Fassung von 1959 zeigt die verängstigte Französin unmittelbar vor dem Vergewaltigungsversuch, in deren Hintergrund der bedrohliche deutsche Offizier infolge einer unglücklichen Kameraposition gar nicht zu erkennen ist.

In der Rückschau ist erstaunlich, dass Chaplins Kriegskomödie Shoulder Arms in Schweizer Kinos äusserst erfolgreich lief und gleichzeitig eines der am stärksten zensurierten Werke der Schweizer Filmgeschichte war. Zudem entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass wir die Überlieferung einer besonderen Fassung dieses Werks gerade dem illegalen Geschäftsgebaren eines Schmalfilmverleihs zu verdanken haben – sowie einer Rettung vor der Verbrennungsanlage in letzter Minute (wobei die Rettungsaktion und spätere Archivierung auf Privatinitiative und Freiwilligenarbeit jenseits der etablierten Institutionen zurückgingen). Bemerkenswert ist schliesslich der Umstand, dass die hierzulande überlieferten Kopien des Werks einerseits die deutlichen Narben jener Zensuraktivitäten tragen, andererseits aber über den filmhistorisch bedeutenden Mehrwert faszinierender visueller Varianten, besserer Kameraeinstellungen und Takes (als in der offiziellen Fassung) verfügen.

Die Ansicht ist verbreitet, dass Menschen in einer filmischen Aufnahme ‹verewigt› werden. Auf Film gebannt wirken ihre Gesichtszüge, Gesten und Bewegungen in ihrer ewigen Unabänderlichkeit jedoch auch unbelebt und stumpf, gewissermassen tot. Charlie Chaplin hingegen tritt uns in den verschiedenen Fassungen von Shoulder Arms in geringfügigen Variationen mehrfach entgegen. Es ist so, als würde man ihm vertraut beim Proben zusehen. Die sich wiederholenden und wandelnden Aufnahmen werden lebendig, der 1977 verstorbene Filmstar dadurch gleichsam zum Leben erweckt.

Die genaue Zuordnung der in den Schweizer Archiven überlieferten Shoulder-Arms-Kopien zu den verschiedenen offiziellen Releases des Films und zu einem der vier Kameranegative ist nur schon deshalb eine komplizierte Sache, weil niemand genau weiss, wo auf der Welt weitere historische Vorführkopien aus der Zeit vor 1959 archiviert sind und auf welchen Negativen diese Kopien beruhen. Es ist also gut möglich, dass es sich bei den 16mm-Kopien des SSVK, die die letzten Jahre ihrer wechselvollen Geschichte im Berner Lichtspiel überstanden, um die weltweit einzigen ihrer Art handelt. Mit dem Forschungsprojekt ‹Mapping Archival Holdings of Chaplin’s Shoulder Arms (MASh)› haben das Lichtspiel und ich uns zum Ziel gesetzt, unter anderem solche Zuordnungsfragen zu klären, in Zusammenarbeit mit institutionellen und wissenschaftlichen Partnern. Das internationale Projekt startet im Frühling 2021 unter https://lichtspiel.ch/mash. Die Recherche geht also weiter.

Anmerkungen

  1. Der vorliegende Text basiert neben der Arbeit mit audiovisuellem Material auf einer umfangreichen Quellenrecherche in diversen historischen Zeitungen, Fachzeitschriften und Verleihkatalogen sowie auf folgenden Archivbeständen: Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt, Basel, Straf und Polizei F 14.8b (Unterlagen der Basler Filmzensur); Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, Berlin, Bern 1852, 2701 und 2702 (Unterlagen der Deutschen Gesandtschaft in Bern); Charlie Chaplin Archive, The Chaplin Office / Cineteca di Bologna, Paris / Bologna, http://www.charliechaplinarchive.org (Unterlagen von Chaplins Firmen). Ich danke Matthias Uhlmann für den Hinweis auf die Basler Quellen und deren Zurverfügungstellen. Im vorliegenden Text wird auf detaillierte Belege verzichtet. Eine vertiefende Publikation mit vollständigen Belegen sowie zusätzlichen Forschungsergebnissen – insbesondere zu den verschiedenen Kameranegativen von Shoulder Arms und der internationalen Verbreitung der entsprechenden Filmfassungen, zu einer neu entdeckten historischen Aufführkopie eines Schweizer Filmsammlers sowie zu der in der Cinémathèque suisse überlieferten Kopie – ist für 2021 vorgesehen. Ein erster, kurzer Überblick über die Rezeption von Shoulder Arms in der Schweiz erschien bereits in meinem Buch zum Kino in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs (Gerber 2017, 417–419, https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/131686). Aspekte des Themas behandelten auch Haver 1996, 55f.; Meier-Kern 1993, 126–128; Uhlmann 2009, 86 und Uhlmann 2019, 84.

  2. Gerber 2017, 413–417, 561f.

  3. Gerber 2017, 283, 413–416, 435, 561f.

  4. Gerber 2017, 384–389.

  5. Gerber 2017, 232–239; Uhlmann 2019, 64–66.

  6. Uhlmann 2019, 19–21.

  7. Zitate aus beiden Berichten sind hier kompiliert, Auslassungen und grammatikalische Anpassungen sind nicht gekennzeichnet.

  8. Uhlmann 2009, 67–70.

  9. Das Film Institut, wie sich das SSVK seit den 1970er-Jahren nannte, hatte nach einem Höhepunkt mit 96000 Filmvermietungen an Institutionen wie Schulen und Vereine im Jahr 1981 und einem rapiden Rückgang des Verleihgeschäfts in den 1990er-Jahren seinen Video- und Schmalfilmverleih per Ende 1998 einstellen müssen. Die neu aufgekommene Videotechnologie erlaubte beispielsweise Lehrern, Fernsehsendungen nun selbstständig aufzuzeichnen und im Unterricht zu nutzen; auch waren immer mehr regionale Mediotheken entstanden, die dem bedeutenden nicht-kommerziellen Filmverleih das Leben schwer machten.

  10. Es war eine gängige Praxis, dass Zwischentitel durch die Verleihfirma hergestellt und in die Aufführkopien eingesetzt wurden.

  11. Im Sommer 1940 wurde das 16mm-Filmmaterial des SSVK einer Generalrevision unterzogen und neu katalogisiert; im September ging es an den unter dem Patronat des SSVK stehenden Verein Schmalfilm-Zentrale über, der in den kommenden Jahren den nicht-kommerziellen Verleih der Schmalfilme besorgte.

  12. Hooman 2006, 198–201.

  13. Robinson 2001, 176, 236, 240; Kamin 2008, 177–179.

Literatur

Gerber, Adrian, Zwischen Propaganda und Unterhaltung: Das Kino in der Schweiz zur Zeit des Ersten Weltkriegs, Marburg: Schüren 2017 (Zürcher Filmstudien, 37), https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/131686.

Haver, Gianni, «La censure cantonale vaudoise et la création de la Commission de Contrôle des Films 1917–1935», in: Revue Historique Vaudoise, 104 (1996), 55–69.

Kamin, Dan, The Comedy of Charlie Chaplin: Artistry in Motion, Lanham: Scarecrow 2008.

Mehran, Hooman, «New DVD Releases of Chaplin Films», in: Frank Scheide / Hooman Mehran (Hg.), Chaplin’s Limelight and the Music Hall Tradition, Jefferson: McFarland 2006, 198–205.

Meier-Kern, Paul, Verbrecherschule oder Kulturfaktor?: Kino und Film in Basel 1896–1916, Basel: Helbing & Lichtenhahn 1993 (Neujahrsblatt / Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige, 171).

Robinson, David, Chaplin: His Life and Art, London: Penguin 2001.

Uhlmann, Matthias, Die Filmzensur im Kanton Zürich von den Anfängen bis 1945: Etablierung, Praxis, Entscheide, Universität Zürich: unpublizierte Lizenziatsarbeit 2009.

Uhlmann, Matthias, Die Filmzensur im Kanton Zürich: Geschichte, Praxis, Entscheide, Zürich: Legissima 2019.

Bildnachweis

Abb. 1: Lichtspiel (Frame Enlargement ab 16mm-Kopie) / Shoulder Arms © Roy Export S.A.S; Image from the Chaplin Archives © Roy Export Co Ltd – www.charliechaplinarchive.org

Abb. 2, 3 und 5: Shoulder Arms © Roy Export S.A.S; Images from the Chaplin Archives © Roy Export Co Ltd – www.charliechaplinarchive.org

Abb. 4: Lichtspiel

Zum Autor

Adrian Gerber ist Filmwissenschaftler, Historiker und Archivar. Im Rahmen seiner filmhistorischen Forschungstätigkeit an der Universität Zürich publizierte er zum Kino in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs (Promotion), zur Geschichte der katholischen Filmarbeit in der Schweiz, zu historischer Kinowerbung und Filmplakaten.

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